Über das Kainsmal (Mai 2012)
Der Mythos von Kain und Abel gehört zu den bekanntesten biblischen Geschichten und ist gleichzeitig eine der komplexesten und rätselhaftesten. Das Kainsmal ist sprichwörtlich geworden, ohne dass wir wüssten, um was es sich dabei handelt, so wie das populäre Verständnis dieses Mythos insgesamt wenig mit seinem wirklichen Inhalt zu tun hat. Wer vom Kainsmal redet, denkt an ein Zeichen, das jemanden als Übeltäter brandmarkt, aber im Buch Genesis steht etwas anderes. Es gab rassistisch motivierte Spekulationen über das Kainsmal; manche Christen identifizierten es mit der schwarzen Hautfarbe. Aber der biblische Text selbst gibt keine Auskunft über das Zeichen, was nur bedeuten kann, dass es darauf nicht ankommt. Das hebräische „אוֹת“ kann sich auf schlechthin alles beziehen, das ein Zeichen für etwas anderes ist; auch der Regenbogen nach der Sintflut gilt als Zeichen in eben diesem Sinne. Die entscheidende Frage ist nicht, was das Kainszeichen ist, sondern wofür es steht, und diese Frage kann uns der Text tatsächlich beantworten.
Der Mythos von Kain und Abel ist schnell erzählt; im Buch Genesis macht er nur 24 Verse aus. Die Geschichte beginnt unmittelbar nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies (dieses wie die folgenden Zitate nach der Übersetzung der Revidierten Elberfelder Bibel):
Und der Mensch erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger und gebar Kain; und sie sagte: Ich habe einen Mann hervorgebracht mit dem HERRN. Und sie gebar noch einmal, und zwar seinen Bruder, den Abel. Und Abel wurde ein Schafhirt, Kain aber wurde ein Ackerbauer.
Der Mythos scheint zunächst einem bekannten Muster zu folgen. Wer mit anderen Ursprungsmythen vertraut ist, hätte eine klare Vorstellung davon, wie es weiter gehen könnte: Kain würde zum Ahnherrn aller Ackerbauern, Abel zu dem der Viehzüchter. Aus den unterschiedlichen Neigungen der Söhne des ersten Menschenpaars würde erklärt, weshalb es unterschiedliche Produktionsweisen gibt. Tatsächlich nimmt die Geschichte von Kain und Abel aber eine ganz andere Wendung, als sie ihrem Gott Jahwe ein Opfer bringen.
Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens dem HERRN eine Opfergabe. Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.
Die Ungleichbehandlung der beiden Opfergaben wird nicht weiter begründet. Man könnte darin die Stiftung eines Opferbrauchs sehen: Jahwe zeigt, dass ihm der Sinn nach dem Fleisch und dem Fett der Schafe steht, nicht nach Getreide. Es könnte auch eine Bevorzugung der Schafhirten gegenüber den Ackerbauern dahinter stecken, was aber letztendlich auf dasselbe hinaus liefe – Jahwe ist ein Gott der Viehzüchter. Kains Ernte mag ebenso viel Mühe wie das Ergebnis von Abels Schafzucht erfordert haben, aber vor Jahwes Augen findet sie keine Gnade. Verständlicherweise fehlt Kain jegliches Verständnis für diese Diskriminierung.
Da wurde Kain sehr zornig, und sein Gesicht senkte sich. Und der HERR sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum hat sich dein Gesicht gesenkt? Ist es nicht so, wenn du recht tust, erhebt es sich? Wenn du aber nicht recht tust, lagert die Sünde vor der Tür. Und nach dir wird ihr Verlangen sein, du aber sollst über sie herrschen.
Jahwes Taktik hat heutzutage einen Namen; man bezeichnet sie als double bind. Die auf Gregory Bateson zurückgehende Doppelbindungstheorie beschreibt kommunikative Zwickmühlen, die typischerweise in einer durch ein Abhängigkeitsverhältnis bestimmten Situation erzeugt werden. Kain hat einen Teil seiner Ernte Jahwe geopfert und damit das seiner Überzeugung nach Richtige getan. Jahwe aber lehnt das Opfer ohne nachvollziehbaren Grund ab, und als Kain verständlicherweise zornig reagiert, weist Jahwe auch diesen Zorn als sündhaft zurück. Kain wird doppelt ins Unrecht gesetzt, zuerst auf der Sachebene („Du tust das Falsche“) und dann auf der emotionalen Ebene („Deine Gefühle sind unangemessen“). So in die Enge getrieben weiß Kain nicht mehr, wie er es Jahwe recht machen soll, aber er kann sich dieser Zwickmühle auch nicht entziehen – Jahwe ist allmächtig und allgegenwärtig.
Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel. Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn.
Jahwe ist ungerecht, aber unangreifbar, und so hält sich Kain an denjenigen, der davon profitiert – seinen Bruder Abel. Wir erfahren nicht, was die Brüder miteinander besprechen, ob sich Abel überheblich gibt, da er sich in Jahwes besonderer Gunst sieht, oder ob er Mitleid zeigt. Aber ob kaltblütig oder provoziert: Kain erschlägt Abel, und Jahwe macht keinen Versuch, den Mord an seinem Schützling zu verhindern. Damit endet aber auch die Geschichte, die den Ursprung der Viehzüchter auf ihren Stammvater Abel zurückgeführt hätte. Eva wird später einen dritten Sohn namens Set („Ersatz“) bekommen, und dieser wird die Rolle spielen, die Abel zugedacht war.
Und der HERR sprach zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Und er sagte: Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?
Will sich Kain dumm stellen? Seine ausweichende, patzige Antwort dürfte einen anderen Grund haben. Seine Leistung im Leben wird, anders als die seines Bruders, nicht anerkannt, seine Wut und Enttäuschung darüber nicht akzeptiert. Nun, da Abel vermisst wird, ist Kain gerade noch gut genug, um Auskunft über ihn zu geben. Kain wird es einfach satt haben, immer hintan gestellt zu werden; noch ist nicht der Moment gekommen, seine Tat zu bereuen.
Jahwes Frage ist ohnehin rhetorisch; er weiß, was passiert ist. Mit seinem Brudermord hat sich Kain endgültig selbst ins Unrecht gesetzt, und so rechnet er mit Jahwes fürchterlicher Strafe.
Und er sprach: Was hast du getan! Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden her. Und nun, verflucht seist du von dem Ackerboden hinweg, der seinen Mund aufgerissen hat, das Blut deines Bruders von deiner Hand zu empfangen! Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir nicht länger seine Kraft geben; unstet und flüchtig sollst du sein auf der Erde!
Ackerbauern gelten wenig bei Jahwe, aber es ist gerade Kains sesshafte Existenz als Bauer, die ihm nun verwehrt wird. Das kann für sich genommen kaum als Strafe gelten, leben die Israeliten doch später als nomadische Viehzüchter; so gesehen würde der als Landwirt aus der Art geschlagene Kain hier nur zur einzig angemessenen Lebensweise zurückgeführt. Nachdem Jahwe bislang entschlossen schien, Kain zugrunde zu richten, erscheint die Strafe für den Brudermord erstaunlich milde. Oder haben wir etwas übersehen?
Da sagte Kain zu dem HERRN: Zu groß ist meine Strafe, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens vertrieben, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und werde unstet und flüchtig sein auf der Erde; und es wird geschehen: jeder, der mich findet, wird mich erschlagen.
Man fragt sich zunächst, wer Kain gefährlich werden könnte. Adam und Eva waren die ersten und bis zur Geburt von Kain und Abel einzigen Menschen – wenn Kain also seine Heimat, seine Eltern und mithin die gesamte Menschheit verlassen muss, wer sollte ihn dann in der Fremde erschlagen? Dagegen wird man sich nicht unbedingt darüber verwundern, dass Kain um sein Leben fürchtete, wenn er denn auf Menschen träfe; schließlich ist er ein Mörder.
Aber das wäre allzu naiv gedacht. Zwar ergibt die Existenz anderer Menschen als Adam und Eva und deren Nachkommen im Kontext der Genesis keinen Sinn, aber dieser Text ist eine Zusammenstellung von Elementen verschiedener Erzähltraditionen, die trotz einer offensichtlichen redaktionellen Bearbeitung nicht immer nahtlos zusammen passen. Insofern ist dieser logische Widerspruch nicht weiter bemerkenswert. Dagegen ist es alles andere als offensichtlich, weshalb jemand Kain erschlagen sollte. Ja, er ist ein Mörder, aber in der Fremde weiß das niemand und Kain wird es nicht herumerzählen. Und selbst wenn: Seine Tat war das Ergebnis eines Streits in der Familie und letztlich nichts, das andere etwas anginge und beträfe. Die Erklärung für Kains Furcht ist komplizierter, und sie berührt den Ursprung von Recht und Moral.
Wir sind die Vorstellung gewohnt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Diese Überzeugung ist aber erst in der Aufklärung entstanden und konnte sich nur langsam durchsetzen. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte gilt, dass es eine Trennung zwischen einem Recht für die eigenen Leute und einem Recht für alle anderen gibt. So finden wir noch im Mosaischen Gesetz unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Israeliten und Fremde, Freie und Sklaven.
Der Mensch ist ein Zoon Politikon, ein Gemeinschaften bildendes und nur in der Gemeinschaft lebensfähiges Wesen. Selbst der Einsiedler bleibt noch auf die Gemeinschaft angewiesen, die ihm durch Almosen seine Existenzweise ermöglicht. Daraus ergeben sich ganz natürlich Regeln, die das Individuum in der Gemeinschaft seiner Familie, seiner Sippe und seines Stamms einhalten muss. Eine Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn jedes ihrer Mitglieder eigene Interessen zugunsten der anderen zurückstellt, und das gilt erst recht, wenn es um gemeinschaftliche Unternehmungen wie etwa die Jagd geht. Daher ist die evolutionäre Entstehung einer Moral und eines Rechtssystems erklärbar, die das friedliche Zusammenleben in Familie, Sippe und Stammesverband regeln.
Für das Verhalten gegenüber Fremden gelten solche Regeln naturgemäß nicht, denn auf ihre Interessen muss man keine Rücksicht nehmen. Wer einen Fremden erschlägt und ihm sein Hab und Gut abnimmt, hat, könnte man zunächst meinen, seiner Gemeinschaft sogar etwas Gutes getan, da er ihren Besitz vermehrt und einen möglichen Konkurrenten um dieselben Ressourcen beseitigt hat. Umgekehrt müsste man allerdings jederzeit befürchten, selbst ermordet zu werden, sobald man allein oder in Unterzahl auf Angehörige einer anderen Gruppe trifft. Um diese Gefahr einzudämmen, wurde das Prinzip der Blutrache erfunden: Wenn ein Mitglied der eigenen Gemeinschaft umgebracht oder verletzt wird, steht die Gemeinschaft unter Verpflichtung, diese Tat an Mitgliedern der Gruppe des Angreifers vielfach zu vergelten. Die Blutrache erscheint uns heute als barbarisch, war aber ursprünglich ein zivilisatorischer Fortschritt, der die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen insgesamt reduzierte. Wer einen Fremden in einer Situation überrascht, in der er ihn töten und berauben kann, wird vielleicht davor zurückschrecken, wenn er befürchten muss, dass die Blutrache der anderen Gruppe seine eigenen Leute trifft. Wahllose Raubmorde an Angehörigen anderer Sippen werden auch nicht mehr auf die Billigung der eigenen Sippe stoßen, da sie zwangsläufig zu weiterem Blutvergießen führen.
Damit wird Kains Angst vor der Verbannung verständlich. Allein die Drohung der Blutrache durch seine Sippe könnte ihn schützen, aber diesen schützenden Sippenverband muss er verlassen. Wer ihn erschlägt, muss niemandes Rache fürchten, und so geht Kain ganz realistisch davon aus, dass er in der Fremde nicht lange überleben wird. Doch Jahwe hat andere Pläne.
Der HERR aber sprach zu ihm: Nicht so, jeder, der Kain erschlägt – siebenfach soll er gerächt werden! Und der HERR machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlüge, der ihn fände.
Das also ist die Bedeutung des Kainsmals: Kain mag zwar aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen sein; er hat keine Verwandten und Freunde mehr, die ihn rächen würden. Aber er steht unter dem persönlichen Schutz von Jahwe und hat damit den stärksten Rächer, den man sich vorstellen kann; das Kainsmal zeigt das für alle erkennbar an. Niemand wird sich an ihm vergreifen, weil das Jahwes fürchterlichen Zorn auf ihn herabbeschwören würde, und so muss Kain zwar in die Fremde ziehen, kann sich aber seines Lebens sicher sein.
Nach dem Tiefpunkt seines Brudermords geht es nun wieder aufwärts für Kain. Seine Biographie entwickelt sich zur Erfolgsstory.
So ging Kain weg vom Angesicht des HERRN und wohnte im Land Nod, östlich von Eden. Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Henoch. Und er wurde der Erbauer einer Stadt und benannte die Stadt nach dem Namen seines Sohnes Henoch. Dem Henoch aber wurde Irad geboren; und Irad zeugte Mehujaël, und Mehujaël zeugte Metuschaël, und Metuschaël zeugte Lamech. Lamech aber nahm sich zwei Frauen; der Name der einen war Ada und der Name der andern Zilla. Und Ada gebar Jabal; dieser wurde der Vater derer, die in Zelten und unter Herden wohnen. Und der Name seines Bruders war Jubal; dieser wurde der Vater all derer, die mit der Zither und der Flöte umgehen. Und Zilla, auch sie gebar, und zwar den Tubal-Kain, den Vater all derer, die Kupfer und Eisen schmieden.
Kain endet nicht arm, einsam und verbittert, wie man es von einem Verbannten erwarten könnte; er gründet eine Familie und wird zum Ahnen einer großen Nachkommenschaft, überraschenderweise auch von nomadischen Viehzüchtern. Er erbaut die erste Stadt – eine Lebensform, mit der sich die Nachkommen seines später geborenen Bruders Set lange schwer tun werden – und über seine Nachfahren Jubal und Tubal-Kain wird er zum Stammvater der Musiker und Schmiede. Kain wird zum Kulturheros.
(Auch hier zeigt es sich wieder, dass die Geschichte von Kain nur unvollkommen in den logischen Zusammenhang des Buches Genesis eingepasst ist: Wie können Kains Nachfahren die Stammväter aller Musiker, Schmiede und nomadischen Viehzüchter sein, wenn nur Noahs Familie und deren Nachkommen die Sintflut überlebt haben (1. Mose 6–9)? Noah ist der Ururururururenkel von Kains jüngerem Bruder Set (1. Mose 4,25); Kains eigene Nachkommenschaft entstammt einer anderen Linie. Ein etwas bemühter Erklärungsversuch besteht darin, Noahs Frau zu einer Nachfahrin Kains zu erklären. Aber es mag sein, dass die Tradition, der wir den Mythos von Kain verdanken, die ursprünglich sumerisch-babylonische Sintflut-Erzählung gar nicht kennt. Vielleicht hatte die Geschichte der Sintflut erst während der babylonischen Gefangenschaft Eingang in die jüdische Tradition gefunden, nachdem jüdische Priester die Figur des Uta-napišti aus dem Gilgamesch-Epos kennengelernt hatten.)
In Gestalt einer Familiengeschichte rekapituliert das Buch Genesis rund 2,5 Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte. Im Garten Eden lebten Adam und Eva als Sammler, was der Wirtschaftsweise des Paläolithikums entspricht. Der Ackerbauer Kain und der Viehzüchter Abel stehen für die neolithische Revolution, die eben durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht definiert ist. Auch Kains Rolle als Gründer einer Stadt fügt sich in diese Entwicklung ein, denn die ersten Städte gehen auf das Neolithikum zurück – Jericho beispielsweise hatte schon vor mehr als 10.000 Jahren eine Stadtmauer.
Weder Ackerbauern noch Viehzüchter leben in Städten; diese entstehen vielmehr als Zentren des Handels und insbesondere des Fernhandels, der wiederum eine Folge des Überflusses ist, den Bauern und Viehzüchter erwirtschaften. Mit dem Fernhandel aber geht eine erneute Weiterentwicklung von Recht und Moral einher. Eine Karawane von Fernhändlern ist stets durch Banden bedroht, die dem gegenseitigen Handel den ertragreicheren Raubmord vorziehen – man eignet sich die wertvollen Waren mit Gewalt an und erschlägt die Händler, damit sie keine Auskunft über ihr Schicksal mehr geben können. Es liegt in der Natur des Fernhandels, dass sich die Händler weitab vom Gebiet ihres Stammes und außerhalb der Reichweite von dessen Blutrache bewegen müssen; so drohen den Räuberbanden keine Sanktionen.
Wenn es sich aber herumspricht, dass ein bestimmter Weg nicht mehr sicher ist, werden sich die Händler alternative Routen suchen. Das durch die Räuberbanden in Verruf geratene Gebiet wird vom Fernhandel ausgeschlossen, damit aber auch von allen Vorteilen, die dieser mit sich bringt. Daher muss sich über kurz oder lang die Vorstellung durchgesetzt haben, dass Händler einen besonderen Schutz genießen sollten, was schließlich in das Gebot der Gastfreundschaft mündet: Fremde sollte man gut behandeln, auch wenn man sie ohne Furcht vor Rache erschlagen und berauben könnte, denn der Austausch von Waren, Nachrichten und Ideen bringt allen Beteiligten Vorteile. Deshalb werden die Räuberbanden nicht gänzlich verschwinden, aber die Städte werden ihr Interesse daran erkennen, sie zu bekämpfen und die Karawanen innerhalb ihres Einflussbereichs zu schützen.
Den Schutz, den Kain aufgrund seines Zeichens genießt, kann man nun als Vorgriff auf diese Entwicklung verstehen: Der Mythos macht Kain zum Ersten, der sich gefahrlos unter Fremden bewegen kann. An die Stelle der persönlichen Blutrache, zu der die Angehörigen der eigenen Sippe verpflichtet sind, tritt die unpersönliche Rache einer weit mächtigeren Instanz. Im Mythos ist dies Jahwe, aber es liegt nahe, hierin auch eine Verkörperung des (Stadt-) Staates zu sehen. Das Gewaltmonopol des Staates, auf dessen Schutz wir uns verlassen, um relativ sicher vor Verbrechen leben zu können, ist die späte Version eines Konzepts, das schon im Mythos von Kain und Abel als Keim einer Idee angelegt ist, und so gesehen tragen wir heute alle das Kainsmal.